Ob sich jetzt etwas verändert? Ob weiße Menschen es jetzt in Deutschland hinkriegen, Rassismus als ein strukturelles Problem anzuerkennen, von dem sie Tag ein Tag aus profitieren? Eine Spekulation.
Seit der Ermordung Georg Floyds am 25. Mai ist Rassismus nicht mehr nur auf einschlägigen Social-Media-Kanälen Thema, sondern wird auf großen Plattformen diskutiert, ja selbst in Talkshows, wie Markus Lanz, Maischberger oder auch bei Anne Will, mithin also zur besten deutschen Sendezeit. Auch Papst Franziskus ließ es sich nicht nehmen, Rassismus als „Sünde“ zu brandmarken und mahnte: „Wir können keine Art von Rassismus oder Ausgrenzung tolerieren.“ Im gleichen Atemzug kritisierte er „die Gewalt der letzten Nächte [als] selbstzerstörerisch“. Damit setzte er nicht nur die systematische Polizeigewalt mit Randalierer*innen gleich, die bei den Protesten in den USA in der Minderheit sind. Er diskreditierte auch mal eben das friedliche Aufbegehren und die Trauer von Tausenden von Gewaltbetroffenen. Nach dem Motto: So bringt ihr euch selbst um. Das ist so falsch. Die systematische tödliche Gewalt geht eben nicht von Schwarzen Menschen aus, sondern von rassistischen Amtsträger*innen.
Wer hat alle Hände voll zu tun?
Diese Schuldumkehr ist typisch, wenn als Weiße wahrgenommene Menschen ohne große Kenntnis über Rassismus sprechen, weil das gerade im Trend liegt. Kanzlerin Merkel machte es besser als der Papst, zumindest auf den ersten Blick. In einem Statement gegenüber der Deutschen Welle kritisierte sie keine Proteste, sondern beschrieb Antirassismus als auch hierzulande nötige, jedoch längst begonnene Aufräumarbeit. Sie sagte: “Wir wissen selber, dass wir auch bei uns so was wie Rassismus kennen. Und deshalb haben wir auch bei uns alle Hände voll zu tun.” Wirklich, haben wir? Was genau wird unternommen, und von wem? Wer ist dieses „Wir“?
Legen etwa die Sicherheitsbehörden die Märchen vom Einzeltäter endlich ad acta und gehen systematisch gegen Terror von Rechts und Polizeigewalt vor? Die Äußerungen des BKA zu dem Attentäter von Hanau, der zwar rassistisch motiviert gemordet habe, aber kein „typischer“ Rechtsextremer sei, lassen das nicht vermuten. Auch die so nahe liegende Verbindung zu der bis heute ungeklärten Verbrennung Oury Jallohs in einem Dessauer Gefängnis bleibt im aktuellen Rassismus-Talk des Mainstream ausgespart. So bleibt auch Merkel vage, wenn sie davon spricht, dass „wir auch so etwas kennen wie Rassismus“. Indessen laufen außerhalb von Berlin Polizei und Innenminister lautstark gegen das in der Hauptstadt gerade verabschiedete Antidiskriminierungsgesetz Sturm. Es kam maßgeblich aufgrund des Drucks des Migrationsrates zustande. Erstmals erlaubt es, dass nicht nur Individuen für etwaige Diskriminierung belangt werden können, sondern auch Institutionen und Behörden, also auch die Polizei.
“I can't believe what you say, because I see what you do” (James Baldwin)
All die Verbindungen und Kontextualisierungen, die nötig wären, um Rassismus tatsächlich zum Problem der Mehrheit zu machen, fehlen in der allgemeinen Rassismus-Empörung bislang fast immer. Das, was informierte Menschen, und das sind leider vornehmlich von Gewalt unmittelbar Betroffene, seit Jahrzehnten sagen und Nicht-Betroffene seit Jahrzehnten ignorieren, bleibt ausgeblendet. So parliert man auch am liebsten unter sich Weißen oder richtet den Blick strikt auf die USA (bei Anne Will lief diese Debatte dank Alice Hasters und Samira El Ouassil immerhin auf gutem Niveau). Wird doch die Brücke von den USA zu hiesigen Verhältnissen geschlagen, behauptet man flugs, dass am Problem längst gearbeitet würde, also „wir“ täten das. Siehe Merkel.
Feminist*innen kennen diese Abwehrstrategien zu Genüge. Sie bedeuten ein Wegschweigen des Problems mit anderen Mitteln, nämlich mit vielen Worten. Die rund hunderttausend Menschen, die am vergangenen Wochenende in ganz Deutschland meist still gegen die systematische Entwürdigung von BPOC protestierten, scheinen jedenfalls wenig Vertrauen in die Sicherheitsbehörden und Institutionen zu haben, wie etwa dem Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk. Trotz Pandemie gingen sie auf die Straße, um sicherzustellen, dass ihr Prostest und ihre Solidarität nicht übersehen werden können.
Dabei ist Rassismus weder kompliziert noch schwer zu verstehen. Fakten und Überlegungen zu dieser Form der Menschenverachtung sind allesamt nur einen Klick weit entfernt. Das Netz quillt über von Beiträgen zu Wut und Trauer über den Mord an Georg Floyd, sowie zu Rassismus insgesamt, auch in Deutschland. Daher lautet die Forderung, die Expert*innen, darunter auch Shary Reeves, mit Nachdruck stellen: Hört zu, mon Dieu!
Feminist*innen ist eine verzweifelte Fatigue, wie diese vertraut. Feminismen kritisieren seit einer gefühlten Ewigkeit, dass Menschen die gleichberechtigte Teilhabe verweigert wird, sobald sie nicht der Norm entsprechen. Die Hälfte der Menschheit zu unbezahlter Arbeit zu nötigen, ist leichter. Ähnlich verhalten sich Weiße, Frauen inklusive, wenn es um Rassismus geht. Es ist einfacher den Betroffenen die Schuld zuzuschieben, als zu versuchen, die eigene strukturelle Gewalttätigkeit auch nur wahrzunehmen.
Die Hausaufgabe für Weiße
Was also ist zu tun? Menschen, die als weiß gelten, müssen sich endlich der Geschichte und Gegenwart ihrer Gewalt und Privilegien stellen. Erst dann können sie sagen, sie hätten alle Hände voll zu tun. Bislang haben nämlich nur diejenigen, die als „anders“ wahrgenommen werden, alle Hände voll damit zu tun, dass auch ihr Leben als wertvoll anerkannt wird. Sie kämpfen täglich um ihr Leben. „Black Lives Matter“ ist eine sehr wichtige Bewegung mit einer vergleichsweise bescheidenen Kernforderung: Auch Schwarzes Leben zählt. Dass dies gemessen an der Realität viel verlangt ist, zeigt jener weiße Polizist, der Georg Floyd am 25. Mai auf offener Straße vor laufender Kamera und im Beisein seiner Kollegen erstickte. Die Täter waren sich sicher, dass sie mit diesem Mord davonkommen würden. Es kam anders.
Vielen Menschen, die als „anders“ wahrgenommen werden, wird der Atem genommen, mal im übertragenen Sinn, mal buchstäblich. Eindrücklich beschrieben von Vanessa Vu: „I can't breathe“. Schwarze Personen und People of Colour sind Gewalt stärker ausgesetzt, nicht weil sie weiße Menschen bedrohen würden, sondern weil weiße Gewalt nur selten ernsthafte Folgen für die Täter*innen hat. Erst wenn dieser Umstand von der Mehrheitsgesellschaft anerkannt wird, kann die Arbeit gegen Rassismus auch auf die Schultern der Verantwortlichen verteilt werden. Dann hat der oberflächliche Rassismus-Talk hoffentlich ein Ende und das ernsthafte Gespräch beginnt.